Ein Kinder-Krimi über Mobbing und Obdachlosigkeit
Der zehnjährige Hector ist das, was man wohl wohlstandsverwahrlost nennt: Mutter und Vater verwirklichen sich in ihren Berufen und sind selten Zuhause im Londoner Vorort, Geld spielt keine Rolle. Hector und seine beiden Geschwister sind in Obhut einer Nanny, die sich allerdings vorwiegend um den Jüngsten der drei Geschwister mit den griechischen Held*innen-Namen kümmert. Die Abwesenheit der Eltern wird von diesen durch Geschenke kompensiert. Erschwerend kommt hinzu, dass sich beide in ihren Berufen für das Gute einsetzen; Hectors Mutter macht PR für eine Umweltschutzorganisation, der Vater dreht Dokumentarfilme „über all die vergessenen Seelen dieser Welt“ – das bedeutet: Sätze wie „Weißt du eigentlich, wie gut du es hast?“ sind an der Tagesordnung.
Hector und seine dreizehnjährige Schwester Helena reagieren sehr unterschiedlich darauf, sich nicht gesehen zu fühlen. Während Helena versucht, durch perfektes Verhalten und gute Noten die Aufmerksamkeit der Eltern zu ergattern, hat sich Hector für den genau gegensätzlichen Weg entschieden: Gemeinsam mit seinen beiden Freund*innen Katie und Will ist er der größte Mobber der Schule. Süßigkeiten werden nicht gekauft, sondern abgezogen, weder vor dem Schulleiter und den Lehrkräften, noch vor Polizist*innen hat Hector Respekt, die Mittagspause verbringt er damit, anderen in der Mensa ein Bein zu stellen und sich über herumfliegende Tablets zu amüsieren. Er ist „ein hoffnungsloser Fall“, stets bemüht, dieses Bild zu übertreffen.

Auf einem seiner Streifzüge auf der Suche nach Ärger übertreibt es Hector dann irgendwann tatsächlich: Als er einem bekannten Obdachlosen im Park einen Streich spielen will, eskaliert die Sache gewaltig und Hector gilt nun endgültig als brutal und verlogen. Doch durch Begegnungen mit dem Obdachlosen Thomas und Mitschülerin Mei-Li beginnt sich etwas in Hector zu verändern, nach und nach denkt er nicht mehr ausschließlich darüber nach, wie er andere ärgern kann und ist berührt von menschlichen Schicksalen. Nur: Wie kann man bei seinen Mitmenschen Vertrauen wecken, wenn man bisher ausschließlich nur Mist gebaut, gelogen und geprügelt hat? Hector muss nun alle überzeugen, zumal in London ein Dieb unterwegs ist, der seine Taten Obdachlosen in die Schuhe schieben will…
Die Nachtbushelden ist das zweite Kinderbuch der Bestsellerautorin Onjali Q. Raúf, die für ihr Debüt Der Junge aus der letzten Reihe zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Auch hier spielt Mobbing eine zentrale Rolle, in ihrem neuen Roman ist das zweite Thema nicht mehr Flucht, sondern Obdachlosigkeit. Harter Tobak für Kinderbücher.
Onjali Q. Raúf erzählt sprachlich toll und sehr spannend, doch zwei Kritikpunkte habe ich dann doch. Erstens: Ich-Erzähler Hector ist sehr reflektiert für sein Alter, in meinen Augen hätte er auch gern schon ein, zwei Jahre älter sein können. Und zweitens frage ich mich, ob die Kriminalgeschichte im zweiten Teil wirklich so hoch hätte aufgehängt werden müssen (ohne spoilern zu wollen). Vielleicht hätte es eine Nummer kleiner, zum Beispiel eine fiese Aktion im Londoner Vorort, gegen die die Kinder kämpfen müssen, auch getan – es muss fürs Storytelling nicht immer gleich der Piccadilly Circus sein.
Auf der anderen Seite komme ich ständig mit spannenden Kinderromanen in Berührung, die ähnlich unrealistisch sind, aber dann noch nicht einmal Botschaften für ihre Leserschaft bereithalten. Onjali Q. Raúf verbindet die Themen Mobbing und Obdachlosigkeit auf eine interessante und innovative Art und Weise. Sie findet Gründe und Lösungen, zeigt hilflose Lehrer*innen und abwesende Eltern sowie Vorurteile gegenüber Obdachlosen. Ein sehr fundiertes Glossar, das der Verlag gut an Deutschland angepasst hat, rundet den Roman ab. Dadurch kann Raúf auch auf den pädagogischen Zeigefinger im Roman selbst gut verzichten.
Alles in allem: Ein sehr spannender Kinderroman mit einer interessanten Entwicklung des Helden plus Kriminalfall und Abbau von Vorurteilen – hat mir gut gefallen!
Onjali Q. Raúf: Die Nachtbushelden (Übersetzung: Katharina Diestelmeier). Atrium 2021, ab 8 Jahren, 15,50 €.