Für meinen heutigen Gast auf unserem digitalen (Vor-) Lesesofa musste ich gar nicht so weit reisen und hätte fast gar nicht das Internet bemühen müssen, denn die Illustratorin und Kinderbuchautorin Elena Prochnow wohnt hier ganz um die Ecke. Dafür ist Elena aber bereits weit gereist: Geboren in Minsk (Belarus), aufgewachsen in Tallinn (Estland), nun mit Mann und Kind hier in Schleswig-Holstein, wo sie 2020 ihren Abschluss in Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Illustration an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel machte.

Ihre Abschlussarbeit ist gleichzeitig Elenas erstes Bilderbuch Pass bloß auf deine Daumen auf! und damit landete sie direkt einen Volltreffer: Auf Kinderbuchblogs, Bookstagram und im Feuillton wurde heiß diskutiert, ob der Tipp von Mimis Opa, einem fiesen Mobber einfach mal mit der Faust voll auf die Nase zu hauen (und dabei auf seine eigenen Daumen aufzupassen) nun pädagogisch wertvoll oder Gewalt einfach keine Lösung ist. Ich habe mich ein wenig durch die Kommentare gelesen und kann mich den Kolleginnen von buuu.ch nur anschließen: Natürlich ist Gewalt keine Lösung, aber in einer gewaltvollen Welt „einen Erwachsenen holen“ funktioniert eben auch nicht immer (hier könnt Ihr einen Blick ins Buch werfen).

Ein ganz anderes Thema beleuchtet Elena in ihrem zweiten Bilderbuch, das gerade erst erschienen ist – ich kann es schon mal vorweg nehmen: Monsieur 3 und ich hatten viel Spaß, das ging bereits beim Titel los und endete damit, dass wir uns auf YouTube ein Video von einem Kakapo ansahen und uns kaputt lachten. Ach, hätte ich bloß einen Kakapo erzählt die Geschichte von einem Jungen und seinem Wunsch nach einem Haustier. Meerschwein, Katze, Hund – für alle hat Mama Gegenargumente, doch da entdeckt der Ich-Erzähler den Kakapo, der sich einfach perfekt als Haustier eignet: nachtaktiv, klug und duftet nach Bienenwachs – was will man mehr!? Gleichzeitig hat das Bilderbuch bei allem Amüsement eine wichtige Botschaft: Kakapos sind akut vom Aussterben bedroht (auch hier solltet Ihr unbedingt einen Blick ins Buch werfen).

Bevor Ihr lange googeln müsste, zeige ich Euch hier einfach nochmal schnell dieses rührende Video von einem Kakapo:

Wenn Ihr von Elenas Illustrationen genauso begeistert seid wie wir, seid Ihr bestimmt auch sehr gespannt auf ihre Inspirationsquellen. Elena hat uns tolle Einblicke in russische Illustrationskunst mitgebracht und deshalb fragen wir jetzt endlich nach ihren liebsten Kinderbüchern, also:

Und was liest du so, Elena Prochnow?

Ich hatte das Glück, in einem Haushalt großgeworden zu sein, wo Bücher einen Kultstatus hatten. Das wurde durch meine Großeltern mütterlicherseits angelegt, die sich als Studenten in Leningrad (heute Sankt Petersburg) kennengelernt haben. Damals hat ihr Hab und Gut in zwei winzige Köfferchen gepasst, in meiner Kindheit war ihre Bibliothek allerdings schon sehr beeindruckend.

Bei uns war es üblich, anstatt „Wie geht’s dir?“, „Was liest du gerade?“ zu fragen. Ich erinnere mich, dass es mir manchmal peinlich war, es zuzugeben, wenn ich gerade etwas Leichtes oder Kitschiges las, weil meine Großeltern ihre Urteile diesbezüglich sofort und ziemlich undelikat abgaben. Gefühlter Weise habe ich alle in der Zeit verfügbaren Bilder- und Kinderbücher gelesen bzw. vorgelesen bekommen, denn das, was wir zu Hause nicht hatten (und wir hatten wirklich eine verrückte Menge an Büchern), habe ich mir schon vor der Schule in der Kinderabteilung der Bibliothek aussuchen dürfen.

Die Best-Of-Liste meiner Lieblingsbücher, sowohl aus meiner Kindheit, als auch heute (mittlerweile sammle ich Bilderbücher) wäre unendlich lang geworden. Deshalb stelle ich hier nur ein paar Bilderbücher vor, die mir sofort eingefallen sind und mich immer wieder aufs Neue faszinieren. Obwohl ich Autorin und Illustratorin bin, bin ich bei Bilderbüchern visuell nachhaltiger beeindruckt. Ich besitze auch mehrere Bilderbücher in Sprachen, die ich nicht verstehe, kann mich aber trotzdem mit den Illustrationen stundenlang beschäftigen.

Vor der Einschulung war mein absolutes Lieblingsbuch Doktor Aibolit oder Doktor Auwehzwick von Kornej Tschukowski. Die Geschichte ähnelt der des Doktor Dolittle. Die klassische Ausgabe wurde vom berühmten russischen Kinderillustrator Wladimir Sutejew illustriert, ich liebte aber die Bilder vom nicht weniger gefeierten Viktor Tschishikow noch mehr und versuchte, sie abzuzeichnen. Heute verstehe ich, warum diese Illustrationen mich so beeindruckten: Man musste überhaupt kein Text verstehen können, die Bilder sind unglaublich dynamisch und emotional, sie erzählen komplexe Geschichten und haben sehr viele witzige Details, die man nicht alle auf den ersten Blick entdeckt.

Das zweite Buch aus meiner Kindheit war eine Sammlung russischer Volksmärchen mit Illustrationen von Nikolai Ustinov. Ustinov ist ein Meister der Landschaften, der stets eine unübertroffene Atmosphäre und Stimmung seiner Illustrationen zaubert. Als Illustratorin lerne ich auch heute viel über ungewöhnlichen Perspektiven und Kompositionen aus seinen Büchern. Gennadij Spirin gehört zu den modernen Klassikern der russischer Illustration und es gibt sehr viele wunderschöne Bücher, die er illustrierte. Hier habe ich das Buch von Otfried Preußler Das Märchen vom Einhorn ausgesucht, weil ich es auch auf Deutsch besitze, jedes Buch von Spirin ist aber ausnahmslos ein Meisterwerk.

Mein Lieblingsillustrator aus Deutschland ist Klaus Ensikat, seine Bücher könnten Lehrbücher sein für alle, die Illustration wirklich lernen wollen. Hier stimmt alles: Komposition, Farben und Emotionen.

Ich bin sehr stolz, einige der modernen russischen Illustrator*innen persönlich zu kennen. Ich liebe die malerische und stimmungsvolle Bilder von Victoria Semykina und die liebevollen Wimmelbilder von Anna Desnitskaya, die mittlerweile auch in Deutschland bekannt ist mit Von Moskau nach Wladiwostok: Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn und In einem alten Haus in Moskau: Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte. Auch liebe ich alle Bilderbücher von Beatrice Alemagna und Sydney Smith, die es mit sehr einfachen Mitteln immer wieder schaffen, die Leser*innen voll emotional einzubinden.

Gute Illustrationen müssen für mich eine gewisse inhaltliche Tiefe haben und die Leser*innen emotional bewegen. Sie dürfen auf keinen Fall einfach den Text wiederholen und wiederum darf der Text nicht einfach die Illustration umschreiben. Der Text und die Illustration sollen zusammen wirken und sich gegenseitig verstärken. Dabei spielt der Stil für mich fast keine Rolle. Ich liebe die Oper und gute Bilderbücher sind für mich wie berühmten Arien – sogar wenn man die Sprache nicht versteht, werden die Emotionen transportiert und das ist für mich wahre Kunst.



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