Über die Freiheit, das zu lesen, was man möchte
Amy ist das, was man als richtige Leseratte bezeichnet: Sie liest und liest und liest – ständig und überall, morgens bis abends und am liebsten an ihrem Lieblingsplatz in der Schulbücherei. Dorthin zieht sie sich zurück und erfindet dafür sogar Schachclub und andere Schul-AGs, weil sie in ihrem chaotischen Zuhause mit ihren beiden kleinen Schwestern, zwei Hunden, einem Opern hörenden Vater und einer ständig telefonierenden Mutter einfach keine Ruhe findet. Amys Lieblingsbücher sind die, in denen die Protagonist*innen allein leben dürfen: Insel der blauen Delfine, Julie von den Wölfen, Robinson Crusoe.
Bücher sind lebenswichtig für Amy, umso schlimmer also, dass sie eines Tages von der Schulbibliothekarin erfahren muss, dass ihr absolutes Lieblingsbuch (Gilly Hopkins – Eine wie keine) aus der Schulbibliothek verbannt wurde. Und nicht nur das: auch Hallo Mister Gott, hier spricht Anna, Harry Potter, Matilda und Captain Underpants wurden aus den Regalen genommen – eine sehr interessante Mischung, wie ich finde.
Was haben diese Bücher gemeinsam? Mrs. Spencer, eine Mutter aus Amys Schule und in sämtlichen Vereinsvorständen der Stadt vertreten, ist sich sicher: Diese Bücher haben einen schlechten Einfluss auf Kinder, sie animieren zu Lügen, Diebstahl und respektlosem Verhalten. Und da Mrs. Spencer einen großen Einfluss auf den Schulausschuss hat, verbannt dieser nach und nach alle Bücher aus der Schulbibliothek, die in diese Kategorie fallen.
Nun sollte man annehmen, dass Amy, die Leseratte, sich so etwas nicht so einfach gefallen lässt. Doch das ist gar nicht so leicht. Zwar hat sie die Schulbibliothekarin Mrs. Jones auf ihrer Seite, doch als Amy vor dem Schulausschuss über ihr Lieblingsbuch sprechen soll, bekommt sie kein Wort heraus – genauso wie Zuhause: Amy denkt sich ihren Teil über das Chaos dort, in dem sie keinen Platz zu haben scheint, äußert sich aber nicht dazu und träumt sich in die ersehnte Einsamkeit.
Damit Amy gegen die Bücherverbannung angeht, bedarf es ein wenig Zeit und vieler guter Freundschaften und Mitstreiter*innen. Gemeinsam sagen sie der Bücherverbannung den Kampf an, erst heimlich still und leise, indem sie sich gegenseitig die verbotenen Bücher ausleihen, dann immer deutlicher: Eines Tages verkündet Amy laut und deutlich im Fernsehen, dass allein die Eltern entscheiden dürfen, was ihr Kind lesen darf und Bücher frei zugänglich sein müssen. Die verbannten Bücher werden wieder zurückgestellt.

Amy und die geheime Bibliothek ist ein Plädoyer für die Freiheit und gleichzeitig ein empathischer Kinderroman über die Entwicklung eines Mädchens, das lernt, seine Stimme zu erheben – im Kleinen wie im Großen (hier geht es zur Leseprobe). Leider hat sich der amerikanische Kinderbuchautor Alan Gratz diese Geschichte nicht ausgedacht: In den USA werden jährlich Hunderte Beschwerden eingereicht, mit dem Ziel, die oben genannten Bücher aus den Bibliotheken verschwinden zu lassen – sehr oft mit Erfolg. 😦
Alan Gratz: Amy und die geheime Bibliothek (Übersetzung: Meritxell Janina Piel). Hanser 2019, ab 9 Jahren, 15,00€.